De Rerum Natura – Über die Natur der Dinge – Eine Einführung aus Sicht des Philosophen Lukrez – der Künstlerin Erika Weigand und dem Künstler Viktor Naimark – Ein Gedankenbogen über mehr als 2000 Jahre.
Von Nadja Zweigler zur Ausstellungseröffnung am 20.9.2024 (ein Ausschnitt)
„Häufig geht einer, der überdrüssig ist, sich daheim aufzuhalten, aus seinem geräumigen Haus und macht plötzlich kehrt, freilich weil er merkt, dass es draußen um nichts besser ist. Er rast überstürzt, seine Ponys hetzend, zu seinem Landgut, dabei treibend, als ob er seinem brennenden Haus zu Hilfe eile; hat er die Schwelle seines Landhauses berührt, gähnt er auf der Stelle, versinkt entweder in tiefen Schlaf und sucht nach Vergessen, oder er strebt sogar eilends zurück in die Stadt und sucht sie erneut auf. Auf diese Weise flieht ein jeder vor sich selbst; doch wie es so ist: Es ist natürlich nicht möglich, sich selbst zu entkommen; er steckt wider Willen fest, und er hasst es deswegen , weil er, ein Kranker, den Grund für seine Krankheit nicht begreift: würde er ihn klar erkennen, so würde ein jeder alles stehen und liegen lassen und zu allererst versuchen Kenntnis De rerum Natura - über die Natur der Dinge zu erlangen…“ (Zitat Lukrez)
(Ende 3.Buch, 1060ff – Warum viele Menschen ein unglückliches Leben führen, Reclam14079, S.49-50)
„De rerum natura“ – das ist zunächst einmal der Titel des in Hexametern verfassten, 6-bändigen Lehrgedichtes, in dem der römische Dichter und Philosoph Titus Lucretius Carus, genannt Lukrez, die Philosophie des Griechen Epikur darlegt. Eine Aufforderung zum Leben ohne Furcht und im Angesicht der Endlichkeit, die wir nicht fürchten brauchen. Lukrez lebte im 1. Jahrhundert v.Christi Geburt und somit ca 250 Jahre nach Epikur.
Für unsere heutige Betrachtung und die Herstellung einer Verbindung zu einer zeitgenössischen Künstlerin – Erika Weigand - und einem zeitgenössischen Künstler – Viktor Naimark , werde ich auf ausgewählte Aspekte von Lukrez Ausführungen eingehen, um Ihnen einen kleinen Einblick in eine Richtung der Beschäftigung mit „Der Natur der Dinge“, mit der Beschaffenheit unserer Natur, der Seele, unseren Regungen, Träumen und unserer Welt aus einer antiken Anschauung zu geben. Dies mag gleichzeitig eine mögliche Annäherung an die Arbeiten von Erika und Viktor vorgeben – ein Vorschlag, ein Deutungsversuch und gleichzeitig der Versuch Geheimnisse im Werk von KünstlerInnen zu lüften, die doch oft gerade aus dem persönlichen Erleben und der Intuition eines Künstlers, einer Künstlerin und des einzelnen Kunstbetrachters einen Sinn ergeben.
Lukrez und somit Epikur folgend, besteht die Welt aus kleinsten, nicht teilbaren Teilchen, den Atomen. Als die Welt entstand, setzte sie zufällig und ohne zutun von Göttern die Atome zu den unterschiedlichsten Dingen und Wesen zusammen – angefangen mit den Gräsern, der grünen Pflanzenwelt, dem Wasser, der Erde, dem Himmel. Dabei probierte sie verschiedenste Formen aus, die oft nicht lebensfähig waren und wieder vergingen – wie Lebenwesen, deren Arme an den Körper gewachsen waren und sich daher nicht gegen Feinde wehren konnten. Diese Wesen zerfielen wieder zu Atomen, um neu arrangiert zu werden. Überlebensfähiges vermehrt sich über Samen. Vor dem Tode braucht man sich nicht zu fürchten, da ein Fegefeuer nicht zu erwarten ist. Wir werden ins Nichts der isolierten Atome zurückfallen. Lukrez will uns die Aufgeregtheit nehmen und plädiert für Gelassenheit – der einzigen Haltung dem Leben gegenüber, wenn der Mensch die Natur der Dinge und des Lebens erfasst hat.
Wie erklärt Lukrez nun Gefühlsregungen wie die Liebe, Träume, Erinnerungen oder die Seele – Themen, die wir in den Arbeiten dieser Ausstelllung finden? Alles, aber auch alles führt er auf dingliche, atomar zusammengesetzte Gründe zurück. Dazu beispielhaft ein Zitat aus dem 3. Buch bezüglich der Beschaffenheit der Seele (Reclam S.44ff, 136-167):
„… sobald der Verstand durch heftige Furcht stärker erschüttert worden ist, sehen wir, dass die Seele in ihrer Gesamtheit überall in den Gliedern die gleiche Empfindung hat: Wir sehen, dass so am ganzen Körper Schweiß ausbricht und Blässe ihn überzieht, dass die Zunge stockt und die Stimme bricht, dass es dunkel wird vor den Augen, dass die Ohren dröhnen und die Beine in sich zusammenknicken, kurz: wir sehen, dass Menschen oftmals wegen eines Schreckens für die Seele zusammenbrechen; jeder kann daraus leicht erkennen, dass die Seele mit dem Geist verbunden ist, die, wenn sie von der Kraft des Geistes erschüttert wurde, dem Körper einen Stoß versetzt und ihn niederwirft.
Eben dieser Mechanismus lehrt uns, dass das Wesen des Geistes und der Seele körperlich ist; sobald man nämlich sieht, dass sie die Glieder umstoßen, dass sie den Körper aus dem Schlaf reißen, den Gesichtsausdruck eines Menschen verändern und ihn gänzlich lenken und wenden – nichts von dem kann ohne Berührung geschehen, wie wir sehen, und Berührung gibt es nicht ohne Körper - muss man da nicht zugeben, dass Geist und Seele von körperlicher Natur sind?“
Wie gut lässt sich hier der Bogen vom Namensgeber der heutigen Ausstellung Lukrez zu unserer zweiten Protagonistin des Abends schlagen – Erika Weigand: Ihre Biografie lässt sich leicht Ihrer Homepage entnehmen, weswegen ich mich auf das für uns heute Wesentliche beschränken möchte, nämlich Erikas Bilder.
Eine klassische Analyse ihrer Werke über Komposition, ihre Farbwahl, den Einsatz von Licht- und Schatten oder ihre altmeisterliche Technik und Beherrschung von Anatomie und Perspektive wären ein abendfüllendes Programm. Interessanter scheint mir, mich eingehender mit einem Werk dieser Ausstellung zu beschäftigen und die dahinter stehende Haltung herauszuarbeiten. Dafür habe ich mir das Mädchen mit dem Fisch – der immer wieder in Erikas Arbeiten auftaucht – ausgewählt.
Wir befinden uns in der Gattung der realistischen Malerei – doch nicht in der wachen Welt. Vielmehr in intuitiv erfundenen Welten und Traumbühnen, in denen immer wieder das Motiv des Fisches wiederkehrt. (Es scheint mir nicht vermessen, Erikas Arbeiten mit Hieronymus Bosch und Jan Breughel d.Ä., in Zusammenhang zu bringen. Letzterer war inspiriert von ersterem. Und in unseren Köpfen schwirren die Traumwesen beider Künstler nach Lukrez als real manifestierte Abbilder. Unbewusst mögen diese auch Erikas Werke inspiriert haben.)wegen Nichthängung gestrichen.
Wie fast alle von Erikas Figuren spricht das Mädchen/ die junge Frau auf eine subtile und doch direkte Weise durch Blickkontakt und Haltung zu uns. In einer ruhigen, fast erstarrten Weise: „Sieh her, das ist die Situation, das ist der Zustand jetzt. Ich kommentiere ihn nicht, bewerte ihn nicht, dass musst Du schon selber machen! Ja, die Situation ist bedrückend, doch ich kann nur wenig tun. Aber: Ich zeige sie Dir. Sieh`, so ist die Natur, das Wesen der Natur, des Menschen.“
Erika versteht es, uns mit jedem ihrer Gemälde in den Kosmos ihrer Gestalten hineinzuziehen. Aufregung ist nicht angebracht, es handelt sich um eine Beschreibung – das würde Lukrez sehr gefallen, der uns mit seinem atomistischen Ansatz zu einer Art Seelenruhe führen wollte.
Betrachten wir Erikas Kosmos genauer: In einem kargen, leeren Raum steht ein nacktes Mädchen. Kein Fenster, keine Tür geben eine Ausblick oder weisen auf einen Ausweg. Der Boden wie auch in vielen anderen Gemälden Erikas gefliest und definiert einen fiktiven Raum. Hier ist er rot-schwarz gefliest als wäre er einem Van Eyck´schen Gemälde entlehnt und ist neben dem komplementären Grün des Schemels auf dem eine Wasserschale steht, die einzige kräftige Farbe des Gemäldes. Streng symmetrisch zeigt sich dieser Raum und sogar der russische Kronleuchter hängt zentral über dem Kopf des Mädchens. Ein Pfingstwunder? Eine Erleuchtung? Kein Schatten suggeriert Realität! Das Mädchen steht auf einer Bühne – einer Traumbühne - und zeigt ihn uns, diesen großen Fisch, der offenbar schon nicht mehr zappelt, riesig und muskulös, doch regungslos in Ermangelung seiner natürlichen Umgebung. Das Mädchen hält und umarmt den Fisch liebevoll und fürsorglich. Wer ist dieser Fisch? Wie verbunden ist sie ihm, liebt sie ihn wie eine Mutter ihr Kind oder wie eine junge Frau einen Mann? Im Märchen hätte das Mädchen oder die junge Frau 3 Wünsche frei, wenn sie den Butt wieder ins Meer werfen würde, ihn befreien würde. Doch sie ist ja selber schwach: entblößt, machtlos, nur fähig, ihn den großen, kraftlosen und schicksalsergebenen uns zu zeigen. Mit dem Ausruf „Ecce Homo“ wird der gefolterte Jesus von Pontius Pilatus der Menge vorgeführt– sieh er ist nur ein Mensch – oder in diesem Fall: er ist nur ein Lebewesen, welches sterblich ist und vergehen wird und zu Atomen zerfallen. Auch, wenn er dem Mädchen im Traum erschienen sein mag als Weggefährt, als idealer Geliebter vielleicht – sie kann ihn nicht halten. Wie kommt er zu ihr in ihre menschliche Kammer, aus der es kein entrinnen gibt. Ist er das Opfer ihrer Suche nach der idealen Liebe? Wollte sie ihn und damit ein deutliches Zeichen von kraftvollem Leben in das ihre holen und nun scheiter sie an dem Versuch, ihn am Leben zu halten und mit ihm die Liebe, nach der sie sich gesehnt hat? Wasser ist Leben – doch ihr Versuch, ihn mit dem Wasser in der Schale zu retten, die sie ihm vorbereitet hat, ist ein kindlicher, ein unerfahren naiver. Lukrez würde ihr zurufen: „Erkenne seine Natur, die nur im Vergehen die Deine ist!“ Hat sie das erkannt und verstanden? Und nimmst sie das an? Ihr Ausdruck scheint unaufgeregt und seelenruhig – wie es Lukrez empfiehlt. Oder ist sie resigniert, abgestumpft, gar gefühllos? All das liegt in diesem Bild. Die Psychoanalytikerin Jessica Benjamin zitiert in Ihrem Buch „Fesseln der Liebe“ Simone de Bauvoir: „Durch die völlige Hingabe an ihr Idol hofft, die Frau, dieses (Idol) werde ihr…, auch den Besitz der Welt (Leben), die in ihm beschlossen liegt, schenken“ (Fesseln der Liebe, S. 139.) Wie tief in die Seele, den Schmerz und die Sehnsüchte eines menschlichen Lebens lässt Erika uns blicken!
Es ist aber noch mehr vorhanden, über den Lukrezschen atomistischen Ansatz hinaus, was Erika in uns zum Schwingen bringt. Bei aller Ruhe dieses Pietà ähnlichen Sujets! Die starre Hilflosigkeit des Mädchens hat die Kraft, uns zu berühren und eine Regung von Mitgefühl hervorzurufen. Kennen wir diese Situation? Manch einer mag sich zur Hilfeleistung veranlasst sehen! Doch vergebens: Die kleine Schale und das wenige Wasser werden den Fisch nicht retten.
In Erikas Arbeiten taucht der tote Fisch – prominent platziert - als Zeichen eines ersehnten, aber fremden Lebens, immer wieder als Zufluchtsort, als Versteck oder als andere Identität und als irreführendes Idol, hochgehalten wie die Standarte im Kampf, um den Weg ins glückliche Leben zu zeigen, immer und immer wieder auf. Er veranschaulicht uns aber im gleichen Maße, wie wir in die Irre gehen können und wie sich der Irreweg auf uns, unsere Verfassung und unser Verständnis unseres Lebens auswirkt. Wiederum im Sinne von Lukrez, der uns vorexerziert, wie wir nur durch nüchterne Betrachtung und
Akzeptanz der Natur Seelenruhe erlangen können...